20. 12. 2005
6. Überwindung der Grenze
Im Frühjahr 1945 sind Millionen Menschen auf der Straße
auf der Suche nach ihren Familien oder einfach nur nach Lebensmitteln.
Hamburg ist, wie viele andere Städte, kaum wiederzuerkennen: ein Meer
von Trümmern, überfüllt mit Vertriebenen aus den ehemaligen
Ostgebieten. Nirgends gibt es so viele wie in Norddeutschland. Überall
herrscht Mangel, viele Menschen handeln auf dem Schwarzmarkt mit Zigaretten.
Die freie Marktwirtschaft der Nachkriegszeit beginnt chaotisch. Ganz anders
die Entwicklung im Osten: Dort gibt es im Herbst 1945 eine Bodenreform.
Grundeigentum über einhundert Hektar, wie es ihn vor allem in Mecklenburg
gibt, wird unter "Neubauern" aufgeteilt. Sieben Jahre später ein krasser
Kurswechsel: Die Bauern werden dazu gedrängt, ihre gerade erst gewonnene
Selbständigkeit wieder aufzugeben und ihre Höfe in "Landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaften" einzubringen. In beiden deutschen Staaten
boomt um 1960 die Fischereiwirtschaft. In Cuxhaven in einer Fischkonservenfabrik
sind es Frauen, die im Akkord die extrem belastende Hand- und Maschinenarbeit
machen, darunter viele Flüchtlingsfrauen. Im Osten ist mit der Hochseefischerei
ein ganzer Wirtschaftszweig neu geschaffen worden, mit 5.000 Arbeitsplätzen
auf See. Die Grenze, die Norddeutschland teilte, hat oft tief in die Lebensläufe
einzelner Menschen eingegriffen, doch selten so massiv wie im Fall von
Hildegard Kruse aus Elbingerode im Ostteil des Harzes. Sie floh in den
Westen, ging aus Heimweh illegal in den Osten zurück und wurde beim
Versuch, wieder in den Westen zurückzukehren, verhaftet. Nach einem
Jahr in DDR-Haft gelang es ihr, in die Bundesrepublik abgeschoben zu werden.
Doch ihre Ehe hat dem ständigen Hin und Her nicht standgehalten. Lebensläufe
entlang der Elbe: Für viele Menschen war der Strom ein Schicksalsfluss
- nicht nur bei der Sturmflut 1962. Weiter stromaufwärts etwa lebten
die Bewohner von Rüterberg bei Dömitz in einer DDR im Miniaturformat:
Das Dorf war von allen Seiten abgesperrt. An einer Enge ganz anderer Art
störten sich die Hamburger Studenten, die 1967 mit dem Spruchband
"Unter den Talaren Muff von 1.000 Jahren" eine ganze Generation von Professoren
aufs Korn nahmen. Später war es die Auseinandersetzung um die Atomkraft
mit Demonstrationen und Besetzungen in Gorleben, die die Gesellschaft spaltete.
Im November 1989 ist die deutsch-deutsche Grenze offen - doch nicht für
Rüterberg, das vergessene Dorf an der Elbe. Dort verschwindet die
Bewachung erst drei Tage später, als jeder bereits problemlos nach
Westen reisen kann.
Bearbeitet am 9. Januar 2006