30. 3. 2006
Kamera: Doug Trent
4. Stadt der Träume
Wohl keine Stadt Chinas regt unsere Fantasie so an wie Shanghai, einst
koloniale Konkubine, dann keusche Kommunistin, die nun erwacht wie ein
monströses Dornröschen. 20 Millionen Einwohner, 4000 Wolkenkratzer,
8000 Kilometer Straßennetz und bei Nacht ein Neondschungel, der seinesgleichen
sucht. Chinas erste moderne Mega-City. Aber auch eine Stadt ohne Gnade,
regiert von Gier und behördlicher Willkür. Die Stadt, die schon
immer gut war für eine Revolution und für erstaunliche Widersprüche.
Wo 1921 die KP Chinas gegründet wurde, wird heute amerikanischer Kaffee
serviert. Regisseur William Cobban (CBC) hat sich wochenlang in der "Stadt
über dem Meer" aufgehalten auf der Suche nach den Menschen, die den
ungestümen Ehrgeiz und die weltoffene Neugier der Shanghaier verkörpern.
Aber auch die Opfer des Fortschritts hat er gesucht und gefunden. Die,
die am Wegesrand zurückblieben, während andere auf die Überholspur
ausscherten. "Oben und unten wollte ich zeigen", sagt Cobban. Und das ist
ihm gelungen. - Mia Liang ist einer seiner Helden. Der Regisseur dreht
Werbespots fürs Fernsehen. Er produziert die Träume von Genuss,
Spaß, Konsum und Körperpflege. Denn in Shanghai ist wie in vielen
chinesischen Großstädten eine noch dünne, aber sehr kaufkräftige
Mittelschicht entstanden, deren Lebensstil sich an der Oberfläche
kaum noch von unserem unterscheidet. Ma Liang besitzt eine Eigentumswohnung,
ein Auto und kann reisen, wohin er will. Ein rasanter Aufstieg für
einen Jungen aus einfachen Verhältnissen. "Meine Familie hatte keine
Wohnung - wir lebten alle in einem Zimmer", erzählt er. "Wir hatten
nur ganz schlichte Kleidung. Ich konnte mir damals gar nicht vorstellen,
was mal aus mir werden sollte." Er gehört zur ersten Generation Chinas,
die ihr Leben selbst in die Hand nehmen und eigene Entscheidungen treffen
kann, ohne dass die Partei alles kontrolliert. Und wie sie aufblüht,
diese Generation. - Modedesignerin Jenny Ji ist noch so eine Vertreterin
des jungen, aufstrebenden Shanghai. Sie bereitet sich auf ihr internationales
Debüt vor - einen Auftritt bei der großen Modemesse in Chinas
modischster Stadt. "Wir sind frei von den Fesseln der Tradition und von
der kommunistischen Trostlosigkeit", sagt sie. Aber ganz auf Tradition
verzichten will sie freilich nicht. Ihre neueste Kollektion bedient sich
der prächtigen Farben und Muster der Peking-Oper. Und es ist selbstverständlich
für sie, am Totenfest Qing Ming zum Grab ihrer Großeltern zu
pilgern. Sie pendelt unbeschwert hin und her zwischen den Geistern ihrer
Ahnen und dem Tonstudio, wo sie die Musik für ihre Modenschau aussucht.
Während manche schon fürchten, dass Chinas alte Kultur zwar den
Kommunismus überlebte, aber nun von der Pop-Mühle aus dem Westen
zerquetscht wird, suchen die jungen Künstler, Designer und Musiker
ihre Wurzeln in der großen Schatztruhe der chinesischen Geschichte
und entdecken sich dabei selbst - und die alte Kultur. Eine ungeheuer spannende
Entdeckungsreise. "Wir werden uns jetzt allmählich unserer chinesischen
Kultur bewusst. Wir wussten immer schon, dass sie etwas ganz besonderes
ist, aber jetzt erst entdecken wir ihre ganze Schönheit", sagt Ma
Liang, der sich in seiner Arbeit ebenfalls auf Zitate der Klassik stützt.
- Aber abseits der Boutiquen und Büros, der Laufstege und Filmstudios
gähnen in der Stadt der Träume Abgründe, die dem flüchtigen
Besucher verborgen bleiben. Wie Qin zum Beispiel, eine allein erziehende
Mutter, erlebt den Albtraum ihres Lebens. Alles, was sie besaß, hatte
sie in eine Eigentumswohnung gesteckt. Aber dann wurde ihr Haus einfach
abgerissen, weil es einem Bauprojekt der Stadtregierung im Wege stand.
Die Entschädigung, die man ihr zahlte, war lächerlich gering.
"Ich wollte die Sache vor Gericht bringen, aber ich fand noch nicht einmal
einen Anwalt, der mutig genug war, mich zu vertreten." Derartige Fälle
sind heikel und gefährlich für die Anwälte; oft stecken
die Behörden mit den Wohnungsbaufirmen unter einer Decke und sorgen
dafür, dass ganze Viertel verschwinden, um Platz für neue Einkaufszentren
und teure Wohnungen zu schaffen. 600000 Menschen wurden in den letzten
Jahren aus der Innenstadt vertrieben und mussten sich weit draußen
am Stadtrand ansiedeln. Wie Qin, die auch noch ihren Job bei einem Staatsbetrieb
verlor, schreibt nun Bittschriften an die Regierung in Peking, um doch
noch zu ihrem Recht zu kommen. - Obwohl die wirtschaftliche Freiheit vielen
ganz neue Möglichkeiten eröffnet hat, bleibt das alte Regime
an der Macht - und mit ihm auch Korruption und Willkür. Wer in die
Mühlen des Apparates gerät, wird leicht zerrieben, weiß
Frau Jiang. Ihr Mann, ein Rechtsanwalt, hat es gewagt, einen solchen Fall
von Wohnungsraub anzunehmen, und deckte einen Korruptionsskandal auf, in
den die Stadtregierung verwickelt war. Aber nicht die Schuldigen wurden
bestraft, sondern der Anwalt. Als die Geschichte in der Hongkonger Presse
erschien, wurde er wegen Verrats von Staatsgeheimnissen für drei Jahre
ins Gefängnis gesperrt. "Jetzt sind wir völlig mittellos und
werden auch noch von der Polizei schikaniert", weint Frau Jiang. "Und das,
obwohl mein Mann doch nur versucht hat, den Menschen zu helfen." - Hu Yang
ist Fotograf und hält die Veränderungen, die seine Heimatstadt
erlebt, mit der Kamera fest. Er dokumentiert den unbändigen Ehrgeiz
und die bodenlose Verzweiflung. "Unglaublich, wie groß die Unterschiede
sind", wundert er sich. "Auf der einen Seite die Reichen und auf der anderen
die Armen. Und dazwischen nichts als diese dünne Mittelschicht. Das
kann zu Chaos und Unruhe führen." - "Stadt der Träume" ist
eine unvergessliche Reise in Chinas schillerndste Metropole, wo zwischen
Träumen und Albträumen nur wenige Straßenzüge liegen.
Bearbeitet am ehemaligen Tag der deutschen Einheit 2006