Geld her!

16. 7. 2007

4. Die Irrfahrt der Geiselgangster
Die dramatischen Bilder gehen durch alle Medien: Aus einem scheinbar einfachen Banküberfall auf eine Sparkassenfiliale in Wrestedt bei Uelzen entwickelt sich ein nervenzerreißendes Geiseldrama. 22 Stunden sind die beiden Bankangestellten in der Hand der Entführer, während einer mehr als 1.000 Kilometer langen Flucht über zwei Grenzen, quer durch Deutschland, durch ganz Polen und bis in die Westukraine. Am Anfang steht ein einfacher Entschluss. Am 2. April 2002 machen sich Artur F., Heinrich K. und Witali H. im späteren Fluchtfahrzeug, einem angemieteten Kleinwagen, auf den Weg zur Bank. Artur F. hat das Zielobjekt aus seiner eigenen Erfahrung ausgewählt: Er wurde 1999 nach einem halben Jahr wegen verschiedener Verfehlungen aus der Banklehre in der Sparkassenfiliale von Wrestedt entlassen. Alle drei sind so genannte "Russlanddeutsche" und im Kindesalter mit den Eltern aus verschiedenen Republiken der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik ausgewandert. Wrestedt, 2. April 2002, gegen 18.33 Uhr: Als an diesem Abend die Bankangestellte Kirsten G. die Sparkasse in den Feierabend verlassen will, wird sie von drei maskierten jungen Männern mit Gaswaffen bedroht und überwältigt. Sie drängen die um Hilfe schreiende Frau zurück in den Schalterraum. Dort hält sich noch ihre 39-jährige Kollegin Ute B. auf, sie gerät ebenfalls in die Gewalt der Bankräuber. Die Räuber erbeuten schließlich mehr als 240.000 Euro. Trotzdem gerät die Situation in kürzester Zeit außer Kontrolle. Als um 18.48 Uhr die ersten Streifenwagen vor der Bankfiliale eintreffen, drohen die Täter, eine der Geiseln zu töten. Die von der Situation überraschten Polizisten folgen ihren Forderungen widerstandslos und übergeben ihnen mehrere, scharfgeladene Dienstpistolen. Gegen 19.05 Uhr beginnen Artur F., Heinrich K. und Witali H. mit den beiden Bankangestellten und der Beute in ihrem Fluchtfahrzeug eine zunächst scheinbar ziellose Reise. Gegen Mitternacht erreichen die drei Täter und ihre Geiseln die polnische Grenze bei Frankfurt an der Oder, die sie problemlos durchbrechen, verfolgt von deutschen Spezialkommandos, denen das polnische Innenministerium die Durchfahrt gewährt. Den Sicherheitskräften ist unklar, welchen Zielort die Flüchtigen erreichen wollen. Kurz nach 10.00 Uhr berichtet der polnische Radiosender RMF, bei einem zweiten Tankstopp nahe Lublin am Morgen des 3. April sei der Geisel Ute B. kurz zuvor die Flucht gelungen. Etwas mehr als eine Stunde später überqueren die drei Bankräuber mit ihrer verbliebenen Geisel Kirsten G. die polnisch-ukrainische Grenze. Sie werden dort von ukrainischen Polizeikräften erwartet und setzen die Flucht mit hoher Geschwindigkeit auf Nebenstraßen fort, immer begleitet von mehreren Polizeifahrzeugen. In der Stadt Rowno blockieren ukrainische Sicherheitskräfte die Weiterfahrt. Der General des ukrainischen Innenministeriums Anatolij Franzus, der mittlerweile vor Ort eingetroffen ist, nimmt über ein Mobiltelefon Kontakt mit den Geiselnehmern auf. Überraschend bieten sie ihm 50.000 Euro aus der Beute an, wenn er sie einfach weiterfahren ließe. Franzus geht zum Schein auf das Angebot ein, steigt unbewaffnet in den Fluchtwagen ein und schlägt den drei jungen Männern vor, das Geschäftliche in einem nahegelegenen Cafe zu besprechen. Dort kann er sie durch einen Appell an ihre "männliche Ehre" überzeugen, ihre verbliebene Geisel freizulassen. Nach einem letzten "Nasdrowje" erteilt er gegen 16.10 Uhr seinen Spezialkräften den Befehl zum Zugriff. Die Bankräuber von Uelzen werden ohne Blutvergießen überwältigt. Am Ende werden die Bankräuber von Wrestedt, die sich als Russen fühlten, als Deutsche verurteilt. Artur F. erhält wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit schwerer räuberischer Erpressung und Geiselnahme sowie eines Verstoßes gegen das Waffengesetz eine Haftstrafe von acht Jahren und neun Monaten. Seine beiden Mittäter werden mit jeweils sechs Jahren und neun Monaten bestraft. Die beiden Geiseln haben sich von der Todesangst während der fast 24-stündigen Entführung nicht erholt. Sie können bis heute ihrer Arbeit in der Sparkasse Wrestedt nur stundenweise nachgehen. Auch weiterhin werden sie täglich von den Ereignissen des 2. und 3. April 2002 heimgesucht.

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Bearbeitet am 19. Juli 2007