15. 11. 2004
2. Utopie hinter Mauern
Sie werden diesen Tag nie vergessen, die Zwillinge Oelschläger
in Halle. "Mein Bruder und ich waren die Ersten in unserer Familie, die
Jugendweihe gemacht haben. Wir waren sehr stolz." Als schwarze Staatskarossen
vorfahren, staunen die Jungs nicht schlecht. Erich Honecker steigt aus,
er ist Ehrengast der Veranstaltung. Später kommt Honecker sogar zu
den Oelschlägers nach Hause, trinkt selbst gekelterten Wein, bleibt
ein paar Stunden. Eine Begegnung der besonderen Art. - Jugendweihe. Der
Initiationsritus für die zu schaffende neue Gesellschaft. SED-Chef
Walter Ulbricht predigt die zehn Gebote des Sozialismus, die Religion hat
ausgedient, neue Rituale für den Neuen Menschen werden geschaffen.
Und die sozialistische Welt greift nach den Sternen. Moskau schickt den
Sputnik um die Erde, Juri Gagarin folgt als erster Mensch im Weltall. Der
Sozialismus wird siegen - so der Glaube vieler, als mit dem Mauerbau auch
das Ausbluten der Gesellschaft beendet wird. Der Berliner Alexanderplatz
wird architektonisch zum Sinnbild für den Aufbruch. - Wolfgang Engels
hat als NVA-Soldat die Mauer mit gebaut. Die Eltern sind bei der Staatssicherheit,
aber er hält die sozialistische Utopie für ein hohles Versprechen,
und 1963 bricht er mit einem Schützenpanzerwagen durch die Mauer.
Die Flucht gelingt. Nach der Wende findet er in seiner Stasi-Akte einen
Vermerk seiner Mutter. Sie hat sich in einer Erklärung von ihrem Sohn
losgesagt. Wolfgang Engels - ein Schicksal von vielen im Schatten der Mauer.
- Dem Allmachtsanspruch des Staates stehen die Menschen oft ohnmächtig
gegenüber. Die Partei schreibt vor, was geschrieben wird, singt vor,
was gesungen wird, tanzt vor, wie getanzt wird. Rock'n'Roll und heiße
Rhythmen gelten als dekadent, zersetzend. Damals in den 60ern. Und doch
haben viele Menschen Augen und Ohren nach Westen gerichtet. In Leipzig
sendet ein Piratensender, er spielt die verpönten Titel. Karl-Heinz
Krause und Wolfgang Siebedorn ahnen, dass sie sich in Gefahr begeben. "Aber
wir haben nach etwas Gemeinsamen gesucht. Dafür war die aufkommende
Beat-Musik ideal." - Und wieder sind es sowjetische Panzerketten, die Hoffnungen
begraben. In Prag scheitert 1968 Dubceks Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Für die Menschen in der DDR ein Schock. Das brutale Ende einer Utopie.
Die DDR ist im grauen sozialistischen Alltag angekommen.
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Bearbeitet am 16. November 2004