19. 9. 2005
5. Freiheit ohne Grenzen
November 1989. Die Familie Anders ist mit ihrem Trabant zum ersten
Mal im Westen, um Onkel und Tante zu besuchen. Doch da passiert das Malheur:
Mitten auf der westdeutschen Autobahn geht der Trabi kaputt. "Ein Mann
hielt mit seinem Auto an und erklärte mir erst einmal, wie die Notrufsäule
funktioniert", erinnert sich Dietrich Anders. Das Auto wird in eine Werkstatt
geschleppt. Die Monteure lassen alles stehen und liegen, um den Zweitakter
unter die Lupe zu nehmen. Den Plastikbomber reparieren sie kostenlos. Kaffee
gibt es gratis dazu. Die Freundlichkeit im deutschen Westen beeindruckt
die Anders.
Der Besuch bei Onkel und Tante jedoch gerät zu einem Desaster.
Die Westverwandtschaft hatte der Familie noch zu DDR-Zeiten ein Grundstück
an der Ostsee geschenkt. Das wollen sie jetzt wieder haben. Herr Anders
ist entrüstet: "Ich habe seit dieser Zeit die Tante und den Onkel
nicht mehr."
November 1989 - nach dem Mauerfall ist die Euphorie groß. Die
Ossis strömen zu Tausenden über die Grenze und werden dort mit
offenen Armen und Begrüßungsgeld empfangen. Der Traum von Freiheit
- nun ist er Wirklichkeit geworden. In der DDR geht es drunter und drüber.
Erich Honecker wird abgesetzt. Der mächtige Mann ist plötzlich
auf der Flucht. Keiner will ihn mehr. Sein Nachfolger Egon Krenz kann für
die alte Betonkopfriege der SED nur kurze Zeit die Macht sichern. Dann
wird auch er vom Lauf der Geschichte weggespült. "Wir sind das Volk"
und "Stasi in die Produktion" rufen jeden Montag Hunderttausende auf den
Straßen.
Viele stimmen mit den Füßen ab und verlassen die DDR. Tausende
Wohnungen stehen leer. Dieter Bartsch braucht eine größere Wohnung.
Seine Frau ist hochschwanger. Mit einem Sperrhaken brechen sie die Tür
einer Neubauwohnung auf, und tatsächlich: Sie ist leer. Also ziehen
sie tags darauf ein: "Das Ganze geschah mit einem Kinderwagen. Die Möbel
drauf, die Küchenschränke drauf", erinnert sich Bartsch. Die
Wohnungsämter sind wie alle DDR-Verwaltungen heillos überfordert.
Eine Zeit der Anarchie bricht an. Jeder nimmt sich, was er möchte.
Keiner beachtet mehr die staatliche Autorität, Ängste wachsen.
Vor allem bei den DDR-Bürgern, die als Funktionäre eine wesentliche
Stütze des alten Regimes waren. Für viele von ihnen bricht eine
Welt zusammen. Zum ersten Mal müssen sie sich rechtfertigen. Für
politische Unterdrückung Andersdenkender und für Mangelwirtschaft.
Eine erste Zäsur im rasanten letzten Jahr der DDR sind die Volkskammerwahlen
im März 1990. "Wir sind ein Volk" lautete die Parole schon zuvor.
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Bearbeitet am 18. Oktober 2005