23. 3. 2006
Kamera: Mitchell Farkas
2. Werkbank der Welt
"Jeder Chinese hat heute die Chance, reich zu werden", lacht Zuo Zongshen
und weiß, wovon er spricht. Aus einer kleinen Reparaturwerkstatt
hat er in zwanzig Jahren einen mächtigen Motorrad-Konzern mit 18000
Arbeitern aufgebaut und ist zum Multimillionär geworden. Heute wohnt
Herr Zuo in einer Villa über der Stadt, die von 60 Bediensteten in
Schuss gehalten wird, und lässt sich in einem aufgemotzten Hummer
chauffieren. - Sarah Spinks, CBC, und Edward Gray, Reporter und Regisseur
der renommierten New York Times, haben sie alle getroffen, die neuen Superstars
im Reich der Mitte. Motorradmogul Zuo aus Chongqing oder auch Internet-Magier
Jack Ma, dessen Auktionswebsite Taobao sogar das mächtige Internetauktionshaus
Ebay das Fürchten lehrt. Und auch der König der Klimaanlagen
hat sich interviewen lassen: Zhang Yue, laut Forbes 229 Millionen
Dollar schwer. - Aber nicht nur die Gewinner der Marktwirtschaft kommen
in dieser intensiven Dokumentation zu Wort. Von den Knochenmühlen
und Schlafkasernen der Textilindustrie über die Schattenwelt der Markenpiraten
bis zu den Abgründen, in welche die Opfer von Arbeitsunfällen
stürzen, lassen Spinks und Gray keine Facette des chinesischen Wirtschaftswunders
aus. "Keiner von Ihnen kann verstehen, was diese Worte bedeuten, Öffnung
und Reform", sagt Jack Ma dem Reporter. "Wir Chinesen aber wissen, wie
grundlegend sie unser Leben verändert haben." Der ehemalige Englischlehrer
aus Hangzhou ist heute einer der erfolgreichsten Unternehmer des Landes.
In seinen Online-Dienst Alibaba kaufte sich im September 2005 "Yahoo!"
ein, für eine Milliarde Dollar. China im 21. Jahrhundert ist ein Land
der Chancen und ungeahnten Möglichkeiten. Ein Land auch, in dem viele
eine Gefahr für unseren Wohlstand sehen. Mit seinen Exporten hat China
in den letzten Jahren den Weltmarkt buchstäblich überschwemmt,
kein Land der Welt wächst so schnell und zu solcher Größe
wie China, das immer noch von Kommunisten regiert wird. Nachdem sie zunächst
die Küstenregionen aufgebaut haben, soll nun das Wachstum weit ins
Landesinnere getragen werden - zum Beispiel in die Millionenstadt Chongqing.
Die zwei Zauberworte, Öffnung und Reform, haben die Energie eines
Volkes geweckt, dessen größter Traum der Traum vom Reichtum
und dessen größter Reichtum sein schier unerschöpfliches
Reservoir an billigen Arbeitskräften ist. 250 Millionen Menschen haben
ihre Sachen gepackt und sind vom Land in die boomenden Städte gezogen,
auf Baustellen und in Fabriken. Es ist die größte Völkerwanderung
der Menschheitsgeschichte. Und jedes Jahr zum chinesischen Neujahr wiederholt
sich der Exodus - wenn die Arbeiter für ein paar Tage nach Hause zu
ihren Familien reisen. Für ein paar Cent schuften viele in Zwölf-Stunden-Schichten
- und schätzen sich dabei noch glücklich, denn daheim ginge es
ihnen viel schlechter. Das weiß auch die 20-jährige Liu Yong,
die beim weltgrößten Sockenproduzenten an der Spindel steht
und jeden Tag 1400 Paar Socken für den Export herstellt. "Bei uns
im Dorf gab es nichts zu tun", lächelt sie. "Hier verdiene ich genug
Geld, um gut zu leben, und kann immer noch meinen Eltern etwas davon schicken."
Aber für andere war der Traum vom besseren Leben schnell ausgeträumt.
"Mein Leben ist für diese Gesellschaft keinen Pfifferling wert", seufzt
Liu Jiuping. Er war mit 16 aus seinem Bergdorf in die Glitzerstadt Shenzhen
aufgebrochen, um in einer Spielzeugfabrik zu arbeiten. Kuschelpandas wurden
dort hergestellt. Aber er arbeitete nur für drei Tage, dann hackte
die Stopfmaschine ihm den rechten Arm ab. Entschädigung gab es keine.
Die Firma sagte, er habe eben die Maschine falsch bedient. "Es ist unerträglich,
wenn man so etwas sieht", sagt Anwalt Zhou Litai, der sich auf Arbeitsrecht
spezialisiert hat. "Der wirtschaftliche Boom wird mit dem Blut und der
Gesundheit unserer Arbeiter bezahlt!" Tausende Verstümmelte haben
ihn schon um Hilfe gebeten - denn oft stehlen sich die Firmen und Fabriken
einfach aus der Verantwortung. "Es zählt nur das Wachstum und nicht
der Mensch", bilanziert Zhou. Aber er lässt nicht locker und zieht
immer wieder vor Gericht. Da landen nur selten die berüchtigten Produktpiraten,
die den renommierten Markenherstellern das Wasser abgraben. China ist der
größte Produzent von gefälschten Markenprodukten geworden
- ob das nun Golfschläger sind, Designertaschen, Zahncreme oder Antibiotika.
"Den Markenpiraten geht es nur ums Geld, sonst nichts", weiß Privatdetektiv
Liu Dianlin, den Freund und Feind unter dem Namen "Lächelnder Wolf"
kennen, weil er den Fälschern mit einem kalten Lächeln nachstellt
und schon vielen das Handwerk legte. Kein Unternehmer, kein Konzern und
kein Hersteller im Westen kann China mehr aus seiner Planung streichen,
entweder als Markt oder als Konkurrenten. Aber niemand weiß, ob die
heiß laufende Konjunktur das Land nicht eines Tages zum Explodieren
bringt. Oder ob die inneren Widersprüche und das große Gefälle
zwischen Neureichen und Habenichtsen zu Unruhe und Chaos führen. "Es
gibt keine Garantien für die Zukunft", stellt Zhu Min fest, einer
der obersten Lenker der Bank of China. "Aber die Vergangenheit gibt uns
Zuversicht." - "Werkbank der Welt": die spannende Momentaufnahme eines
erwachenden Riesen, dessen Energie und Ehrgeiz keinen unberührt lassen
werden.
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Bearbeitet am ehemaligen Tag der deutschen Einheit 2006