China

29. 3. 2006

Kamera: Hans Vanderzande

3. Spiele der Macht
Als Ai Qing 1942 sein Gedicht "Tagesanbruch" schrieb, da konnte der größte Poet des modernen China nicht wissen, dass sein Optimismus verfrüht war. Seine Hoffnungen auf einen neuen Anfang nach langer Dunkelheit würden noch Jahrzehnte unerfüllt bleiben. Vielleicht ist jetzt, mit den Olympischen Spielen in Peking, die Zeit gekommen. - Regisseur Neil Docherty vom kanadischen Sender CBC schildert den politischen Umbruch in einem Land, das von Kommunisten regiert und von Kapitalisten beherrscht wird. Das Schicksal des Dichters Ai Qing und seines Sohnes Ai Wei Wei hat den Filmemacher besonders berührt. - Denn Ai Wei Wei ist wohl der bedeutendste Künstler Chinas. Ein selbsternannter "böser Bube", ein Nihilist und Provokateur,  und auch brillanter Co-Designer des Pekinger Olympia-Stadions, einer gewaltigen Konstruktion in der Hauptstadt, mit der das neue China sich seinen Gästen aus aller Welt präsentieren will. - Olympia 2008, das werden die Spiele der Macht. China ist nun dort angekommen, wo es immer hinwollte. Es kann mit den größten Nationen der Welt auf Augenhöhe konkurrieren. Und davon erhofft sich das kommunistische Regime einen Prestigegewinn beim eigenen Volk und eine Festigung seiner eigenen Macht. Für dieses Ziel wird alles mobilisiert. Seit Jahren schon trainieren Chinas Medaillenhoffnungen unter größten Opfern für ihren Auftritt. Zum Beispiel die Turnerin Xiao Sha, die Gold am Schwebebalken holen will. "Am Anfang hatte ich furchtbares Heimweh nach meiner Familie", erinnert sich die 14-Jährige, die mit ihrem Charme das Publikum verzaubern wird. Ihre Eltern hat sie nicht mehr gesehen, seit sie ins Pekinger Trainingszentrum aufgenommen wurde. Das war vor drei Jahren. "Sie soll China Ruhm und Ehre bringen", sagt ihr Vater stolz. - Ehre ist es auch, die Bo Han umtreibt. Die 18-jähjrige Studentin an der Peking-Universität wünscht sich nichts sehnlicher als die Ehre, Mitglied in der Kommunistischen Partei zu werden. Denn das ist gar nicht so einfach. In einer zweijährigen Probezeit müssen sich die Kandidaten bewähren und sich dann dem Votum ihrer Kommilitonen stellen. "Die Partei braucht frisches Blut", sagt Bo Han. Und natürlich weiß sie auch, dass die Parteimitgliedschaft der Karriere sehr förderlich ist. Aber Chinas KP ist aufgrund vieler Korruptionsskandale bei der Bevölkerung in Verruf geraten, und die Schalthebel der Macht scheint sie längst nicht mehr so fest in den Händen zu halten wie noch vor ein paar Jahren. - Auch wenn das Regime seine Macht nicht abgeben will: auf dem Lande wird längst schon vorsichtig mit der Demokratie experimentiert. Vor allem wohl, um ein wenig Druck aus dem Kessel zu nehmen, darf die Landbevölkerung ihre Anführer selbst bestimmen. Bürgermeisterin und Blumenzüchterin Liu im ländlichen Sichuan weiß, was die Menschen wollen: "Demokratie. Da fühlen sie sich ernst genommen und respektiert." Und natürlich verlangen sie, dass sich ihre Lebensumstände verbessern. Frau Liu hat dafür gesorgt, dass eine befestigte Straße in die nächst größere Stadt gebaut wurde. Und sie hat auch dafür gesorgt, dass ihr Dorf etwas abbekommt vom Glanz der Olympischen Spiele: " Wir haben einen Vertrag mit dem Organisationskomitee unterschrieben: wir liefern Blumen für die Spiele." Trotz ihrer Erfolge muss sie sich zur Wahl stellen. Und auch ihr Gegenkandidat, der betuchte Knoblauchbauer Zhang, weiß, worauf es ankommt: "Der Anführer muss dafür sorgen, dass die Leute reich werden. Da hilft es, wenn er selbst reich ist." - Aber wird sich das Milliardenvolk auf Dauer mit der Aussicht auf Reichtum beruhigen lassen und nicht auch Mitspracherecht und Meinungsfreiheit fordern? "China hat bereits große Fortschritte in dieser Richtung gemacht. Aber alle müssen mithelfen, damit wir nicht wieder in die dunkle Zeit zurückfallen", warnt Ai Wei Wei, der die schlimmsten Exzesse der Mao-Diktatur als Kind miterlebte. Während der Kulturrevolution 1966 bis 1976 herrschten Willkür und Terror, wurden Millionen unschuldig ins Gefängnis geworfen und in den Tod getrieben, weil Mao seine Macht gefährdet sah. Wie Weis Vater, der Poet Ai Qing, kam für zehn Jahre in die Verbannung, durfte weder lesen noch schreiben und musste Soldatenlatrinen leer schaufeln. Damals wurden seine Bücher verbrannt, heute hat ihm die Partei ein Denkmal gesetzt. - Vergangenes Unrecht zu tilgen: das ist es auch, was Lu Yun Fei sich vorgenommen hat. Der Computerfachmann ist ein glühender Nationalist und wird wütend, wenn er an die Ungerechtigkeit und Demütigungen denkt, die China im vergangenen Jahrhundert erleiden musste, vor allem von Seiten der Japaner, die China mit einem grausamen Krieg überzogen und heute nichts mehr davon wissen wollen. "Wir müssen die Interessen unseres Volkes wahren. Das ist für mich eine große, patriotische Aufgabe." Für ihn heißt das: über das Internet anti-japanische Demonstrationen organisieren. Im vergangenen Jahr konnte die Welt sehen, welcher Hass da schlummert und welche Gewalt er auslösen kann, als Zehntausende durch Chinas Großstädte zogen und japanische Symbole angriffen. - Im ideologischen Vakuum nach dem Ende des Kommunismus hat Chinas Führung den Geist des Nationalismus aus der Flasche gelassen. Aber dass musste sie erkennen, dass sie selbst in Gefahr war: Als die Demonstrationen nicht mehr zu kontrollieren waren, wurden sie schnellstens verboten und Lu Yun Feis anti-japanische Website von den Internetwächtern blockiert. - Zu groß ist noch die Angst, dass die Gespenster von 1989 zurückkommen. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung ist zwar immer noch ein Tabuthema - aber die Angst vor Unruhe und Chaos sitzt tief in einem Regime, das ideologisch abgewirtschaftet hat, aber nicht aufgeben wird, solange die Wirtschaft läuft. - "Spiele der Macht" ist das bewegende Porträt eines Landes im Umbruch. Der vorolympische Wettlauf eines totalitären Regimes gegen die Kräfte des Wandels und die Sehnsüchte seines Volkes.

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Bearbeitet am ehemaligen Tag der deutschen Einheit 2006