Berlin - Saigon

17. 4. 2007

4. Frühlingszauber in Vietnam
Es ist ein Zug der fröhlichen Leute. In engen Kurven folgt er dem Lauf des Roten Flusses, windet sich durch Dörfer, in denen Vieh und Menschen der Eisenbahn nur widerwillig die Vorfahrt überlassen. Die Reisenden verbindet das Gefühl einer klassenlosen Gesellschaft, in der jeder mit jedem spricht und scherzt. Zehn Stunden soll die dreihundert Kilometer lange Fahrt von der chinesischen Grenze bis in die Hauptstadt Hanoi dauern. Doch das ist ein Schätzwert, weil schon das Beharrungsvermögen einer Kuh, die dem Zug den Weg versperrt, den Fahrplan in Unordnung bringt. Nach 13 Stunden rattert er schließlich über die letzte Brücke vor der Stadt und wird von der urbanen Lebenswelt verschlungen. So schmal ist die Gasse, die dem Schienenstrang belassen wurde, dass der Reisende von Fenster zu Fenster in den Wohnungen das abendliche Fernsehprogramm sehen kann. - Dirk Sager und sein Team haben das letzte Land einer langen Reise erreicht. Es ist auch das letzte Land, auf das der Schatten der Tyrannen fiel. Als Vietnam um die Befreiung von französischer Kolonialherrschaft kämpfte, fand es Beistand nur im kommunistischen Lager. Der mächtige Nachbar China wurde Vorbild für die politische Ordnung. Immer noch gibt die Kommunistische Partei den Ton an. Doch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann die Selbstbefreiung vom Dogma der Planwirtschaft, die das Land zu erwürgen drohte. Seitdem befindet sich Vietnam in einem schwunghaften Prozess der Veränderung. - Nguyen Mai gilt als eine der tüchtigsten Geschäftsfrauen des Landes. Dazu umgibt sie ein Flair des Geheimnisvollen, weil ihr kaiserliche Abstammung nachgesagt wird. Und wenn man vor ihr steht, will man ihr die Rolle als Prinzessin gerne glauben - so zauberhaft ist ihre Erscheinung. Sie ist Mitte dreißig und sagt, dass ihre Generation Glück gehabt habe, weil sie mit der Öffnung des Landes aufgewachsen sei. Mai hat in den USA studiert und leitet in Hanoi eine Tourismusagentur, die als Partner westlicher Großunternehmer arbeitet. Sie bekennt, dass man wohl noch nicht Freiheit habe wie in Amerika. "Aber die Freiheit in meinem Land wird jeden Tag besser. Das ist gut." Ihr Zuhause ist eine palastähnliche Villa, die nach ihren Plänen am Rande eines Sees errichtet wurde. Der Stolz auf die eigene Jahrtausende alte Tradition und die Fähigkeit, das Erbe der Vorväter mit der Moderne zu verbinden - die junge Frau weist auf einnehmende Weise in die Zukunft des Landes. - Die schnellen, bequemen Züge, die Hanoi mit Saigon, der einstigen Hauptstadt Südvietnams verbinden, tragen den programmatischen Namen "Vereinigungsexpress". Doch wer mehr vom Land und den Menschen erleben will, reist besser in der Holzklasse eines Zuges, der langsam seines Weges zieht - durch die weiten Ebenen mit Reisfeldern, vorbei an schmucken Dörfern, über deren Dächer sich vertraut wirkende Kirchtürme erheben. Nur einmal auf der zweitausend Kilometer langen Strecke schiebt sich ein Gebirgsriegel bis an die Küste, und der Zug quält sich in engen Serpentinen über den "Wolkenpass". Man meint, auf ein Paradies zu schauen, eine Lagunenlandschaft mit weißen Stränden und Fischerbooten im azurblauen Wasser. Doch Besuche bei Kaffee- und Reisbauern in einem Fischerdorf lehren, wie hart die Menschen ums Überleben zu kämpfen haben. Befreiend wirkt allein, wie offen sie über ihre Probleme sprechen. - Über Land entlädt sich in einem spektakulären Schauspiel ein Tropengewitter. Ein starker Wind aus Süd-Ost türmt die Wellen auf. Auf schwankendem Heck lässt der Fischer Tran Lao das Schleppnetz ins Wasser gleiten. Er hat das ZDF-Team über Nacht mit auf See genommen, damit es selbst erfahren kann von der Härte seines Überlebenskampfes. Der Fang dieser Nacht, Garnelen und Tintenfische, ist gar nicht einmal schlecht. Doch er muss an den Händler verkaufen, der ihm den Kredit gab, um das Boot zu erwerben. Der Erlös reicht gerade, um die Kosten des täglichen Lebens zu bezahlen. Tran Lao hat keine Chance, der Schuldenfalle jemals zu entkommen. So geht es allen Fischern in seinem Dorf. - Namen, die für die Schrecken des Krieges stehen und Namen, die sich durch die Literatur wie eine Legende verfestigt haben. Das Dorf My Lai, das am 16. März 1968 von einem amerikanischen Kommando überfallen und ausgelöscht wurde. Der einzige Überlebende des Massakers ist heute Direktor der Gedenkstätte. - Und schließlich nach 16.000 Kilometern mit der Eisenbahn am Ziel. Am Bahnhof steht nicht der Name, den die nordvietnamesischen Befreier, die in Wirklichkeit als Okkupanten kamen, der Stadt gegeben haben. Sie benannten sie nach dem nordvietnamesischen Staatsgründer Ho Chi Minh. Doch große roten Buchstaben begrüßen den Reisenden mit dem alten Namen Saigon. Selbst im trüben Regen des frühen Morgens ist erkennbar, dass die Stadt einer neue Blüte entgegen wächst, die Brüche ihrer Geschichte überwuchernd. Ein Moloch von acht Millionen Einwohnern, der den Motor für die Wirtschaft ganz Vietnams bildet. - Ihren ganzen Zauber entfaltet die Stadt in den Stunden des Abends, wenn die mit bunten Lampions geschmückten Restaurantschiffe auf dem Fluss kreuzen. Durch die Straßen der Innenstadt gleitet die Jugend wie Schwärme von Glühwürmchen auf leisen Motorrollern. In den wieder erwachten Nachtclubs meint man Graham Greene treffen zu können, den englische Schriftsteller, der in seinem Roman "Der stille Amerikaner" ein Kapitel aus der Tragödie der Stadt beschrieb. Und wenn nicht dort, dann auf der Dachterrasse des Hotels "Majestic", die er in seinem Buch pries. Von hier fällt der Blick auf den breiten Fluss, auf dem auch um Mitternacht noch die Vergnügungsdampfer ihres Weges ziehen. Eine Reise wie ein Traum - und doch ein Zeugnis von Wirklichkeit.

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Bearbeitet am 16. April 2007