25. 12. 2008
1. Ein russischer Mythos
Die WDR-Reisereportagen haben eine langjährige Tradition im Weihnachtssonderprogramm
des Ersten. Ein Name hat sie mitgeprägt: Fritz Pleitgen. Nach seinen
beeindruckenden Dokumentationen über den Kaukasus, den Bug, die Rocky
Mountains und über ostdeutsche Regionen vor und nach dem Mauerfall,
führt er uns diesmal an die Ufer des Don. Ein Fluss, der von den Russen
seit jeher mit Schicksal, Kampf und Freiheitsdrang verbunden wird. Ein
russischer Mythos. - Der Don startet seinen Lauf südlich von Moskau
parallel zur Wolga, passiert die Städte Woronesch und Rostow, bevor
er nach 2 000 km bei Asow ins Schwarze Meer strömt. Der Don ist ein
russischer Mythos. Don Batuschka, Väterchen Don, wird er genannt.
Ein Fluss großer Hoffnungen und großer Tragödien. In ihm
vermischt sich, so wird gesagt, das Wasser mit dem Blut, das an seinen
Ufern vergossen wurde. In der Nähe der Donquelle, am Kulikowo Feld,
auch Schnepfenfeld genannt, beginnt Fritz Pleitgen seine Drehreise. - Vom
Quellgebiet des Don nicht weit entfernt liegt ein kleines Dorf, das jedem
Russen ein Begriff ist: Jasnaja Poljana. Hier lebte Lew Tolstoi. Die Menschen
verehrten ihn als Schriftsteller und weil er sich um die Armen kümmerte.
Sein Grab ist bis heute Pilgerstätte geblieben. Für Viktor Jerofejew,
Russlands bekanntesten Schriftsteller der Gegenwart, ist Lew Tolstoi ein
Symbol, ein Denkmal, ein Genie: „Das Wertvollste, was wir haben, ist unsere
Sprache. Tolstoi hat sie genommen und mit ihr ein Bild Russlands geschaffen,
wie es bis heute in aller Welt gesehen wird“. Das riesige Anwesen, zu dem
mehrere Museen gehören, wird heute von Wladimir Tolstoi, dem Ururenkel
Lew Tolstois, verwaltet. In seinen jungen Jahren war Tolstoi voller Lebensgier,
ein Schürzenjäger, ein Hasardeur, der sein Geburtshaus und sogar
seine Manuskripte verspielte. - Nächste Station der Reise ist das
Städtchen Sadonsk am Don, auch „Russisches Jerusalem“ genannt. Es
hat 14 000 Einwohner und drei aktive Klöster. Die russisch-orthodoxe
Kirche floriert wieder, die Zahl der Klöster in Russland ist auf 450
angewachsen. Sadonsk gehört zu den fünf Größten. Viele
Pilger kommen hierher, um eine Quelle zu besuchen, aus der angeblich der
Heilige Tichon das Wasser schöpfte, um seine Wunder zu vollbringen.
- Weiter geht es nach Woronesch, das während des Zweiten Weltkriegs
von der deutschen Wehrmacht fast völlig zerstört wurde. Woronesch
war auch der Ort, an dem der Dichter Ossip Mandelstam kurz vor seinem Lagertod
in Verbannung, Angst und Armut lebte. Er wusste, dass Stalins Schergen
näher kamen. Trotz Todesangst schuf er großartige Gedichte.
Der Mythos vom Leid und Sieg im Großen Vaterländischen Krieg
lebt hier auf. Das neue Russland will Respekt, von innen wie von außen.
Woronesch ist der Status „Stadt des militärischen Ruhms“ verliehen
worden. - Südlich von Woronesch findet Fritz Pleitgen im Dörfchen
Petino den Bildhauer Sergej Gorschkow. Für ihn als Künstler ist
der Don eine Quelle der Inspiration. - Das Filmteam erreicht die Höhlenkirchen
bei Divnoje Gorje. Wunderbare Berge werden diese Kreidefelsen genannt.
Auf der Fahrt dorthin spricht Pleitgen mit Reisenden im Zug über das
heutige Russland. Jetzt beginne die Aufbauphase und das Leben sei besser
geworden. In der Ära Putin habe sich viel getan. In der kurzen Zeit
habe er das Riesenland wieder auf die Beine gestellt und nach vorne gebracht,
so der Tenor der Antworten. In Diwonje Gorje angekommen führt Vater
Piterim das Filmteam in die geheimnisvolle Unterwelt. Mönche haben
sich hier einst versteckt, Kreuzprozessionen führten durch die Gänge.
Die Höhlenkirche wurde in der Sowjetzeit entweiht und schließlich
geschlossen. Nun hängen hier wieder Ikonen. Die berühmteste ist
die Kopie der Heiligen Madonna von Sizilien. Sie soll Wunder gegen Cholera
und schlechte Ernten bewirkt haben. - Pleitgen besucht auch das renommierte
Gestüt "Orlowski Konny Zavod", das 1776 von Graf Orlow gegründet
wurde. Das Anwesen östlich des Dons hatte ihm Katharina die Große
geschenkt. Hier werden immer noch die berühmten Orlow-Traber gezüchtet.
Internationale Rennbahnen haben die Pferde zwar nicht erobert, dafür
aber die Weltliteratur. Das Gestüt macht jedes Jahr eine Million Dollar
Verlust. Der Besitzer, ein Unternehmer und Pferdeliebhaber aus Moskau,
kann es verkraften. - In Pawlowsk am Don ließ Peter der Große
seine Schiffe bauen, um mit treuen Kosaken den Don abwärts gegen die
Türken zu ziehen und den Zugang zum Schwarzen Meer zu erobern. Heute
ist Pawlowsk nicht mehr gefragt. In der Sowjetzeit wurden hier noch Schlepper
und Lastkähne auf Kiel gelegt. Mit dem Zusammenbruch des Roten Reiches
war damit Schluss. Die einst so stolze Werft ist inzwischen völlig
verwahrlost. Aber die Schiffbautradition lebt fort. In einer Marine-Pionierschule
trifft sich Fritz Pleitgen mit Jugendlichen, die davon träumen, dass
Russland wieder eine schlagkräftige Seemacht wird. Was verlockt sie
dazu? „Mir gefällt die Uniform und die Romantik. Für Russland
werden wir stehen. Wir werden es stützen, dieses heutige Russland,“
sagen die junge Matrosen. Der Don: Tausend Kilometer haben Fritz Pleitgen
und sein Team im ersten Teil der Reise zurückgelegt. Als „stiller
Don“ ist der Fluss in die Weltliteratur eingegangen. Der Roman beschreibt
die Tragödie der Kosaken im Bürgerkrieg. Deren dramatische Geschichte
wird im zweiten Teil erzählt.
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Bearbeitet am 4. Januar 2009