Am 29. April 1972 gab es ein historisches Ereignis. Dieses Ereignis ist in den Köpfen der Deutschen noch nicht angekommen. Denn es ging an diesem Tag um nicht weniger als - Minderheitenrechte.
Hui, wird da jeder und jede sagen, Minderheitenrechte gehen uns alle
etwas an, denn jeder gehört zu einer Minderheit. Minderheitenrechte
sind am Ende Rechte. Und zwar Rechte der Mehrheit. Vor 45 Jahren gingen
in Münster Menschen auf die Straße, um das Recht einzufordern,
so zu leben, wie es dem Einzelnen gefällt, nicht den selbsternannten
Gralshütern der Moral, besorgten Bürgern oder wer auch immer
sich anmaßt(e), anderen Menschen in ihrem Bett und ihrem Leben Vorschriften
zu machen. Vor 45 Jahren gingen in Münster die Schwulen und Lesben
auf die Straße. Sie forderten Respekt für ihr Leben ein. Sie
forderten das Recht auf eine
selbstbestimmte Sexualität ein und damit auf ein selbstbestimmtes
Leben. Deutschland erlebte seine erste Homo-Demo! Und sie fand nicht in
Berlin statt, nicht in Köln, nicht in Frankfurt und schon gar nicht
in München. Sie fand in Münster statt.
Seitdem hat sich viel getan, und es war ein langer Weg. Das Ziel ist noch nicht erreicht, und ich frage mich, ob es überhaupt ein Ziel gibt. Einerlei: manchmal ist der Weg das Ziel, denn auf dem Weg ist man vor Rückschritten nicht gefeit. Immerhin wird heute in Deutschland niemand mehr eingesperrt, wenn er schwul ist. Den Schwulen, die bis 1969 bzw. 1994 von der Justiz wegen ihres Tuns verfolgt, eingesperrt, und sonstwie kujoniert wurden, steht ihre Rehabilitation ins Haus. Noch in dieser Wahlperiode will der Bundestag die Opfer der staatlich organisierten Schwulenverfolgung entschädigen. Das kommt für viele zu spät, es lindert auch nicht den Kummer über zerstörte Lebenswege durch das gesellschaftliche Stigma der Homosexualität, welches durch eine angebräunte Justiz Brief und Siegel bekam, aber es verschafft doch Genugtuung. Die Verurteilungen nach § 175 waren nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland eben nicht in Ordnung, sie waren eine ekelige Angelegenheit (der Autor, als Historiker gesegnet, weiß, wovon er schreibt).
45 Jahre
nach der ersten deutschen Homo-Demo in Münster (sagte ich das schon?)
versammelten sich auf den Tag genau am Schloss viele Männer und Frauen,
um an dieses Ereignis zu erinnern. Es waren durchaus nicht nur Schwule
und Lesben, die da zusammenkamen. Es wurden auch Heteros gesichtet, sogar
Politikerinnen und Politiker fanden sich vor dem Schloss und später
in der Stubengasse, dem Ziel der Demonstration ein: Ministerin Svenja Schulze
wurde gesichtet, ihr Landtagskollege Thomas Marquardt, der Bundestagsabgeordnete
Christoph Strässer, Ratsherr Richard Halberstadt, ein Trupp Jusos
und Schwusos ebenso wie eine Vertretung der Piraten und der Grünen.
Es kam noch besser: die Polizei war vertreten und sorgte für einen
reibungslosen Verlauf der Veranstaltung. Nicht etwa, dass Gefahr bestanden
hätte, aber der Verkehr musste angesichts der Größe der
Demonstration geregelt werden, und das kann nur die Polizei.
Muss ich sagen, dass ich an dieser Demonstration teilgenommen habe?
Selbstverständlich habe ich
das, denn auch ich nehme für mich in Anspruch, so zu leben, wie ich
das will. Und da ich mit meiner Lebensweise nicht in die Rechte anderer
eingreife, räume ich niemandem das Recht ein, mir vorzuschreiben,
wie ich zu leben haben. Und schon gar nicht, was mein Triebleben betrifft.
Da fand ich mich in guter Gesellschaft. Es war für mich interessant,
wer bei diesem Happening anwesend war, noch prickelnder fand ich es, wer
nicht anwesend war. In einem Fall war das Fehlen geradezu eklatant: bei
den Reden am Endpunkt in der Stubengasse fehlte eine Frau. Ja, wo waren
sie denn, die Lesben? Lesben im Verein am seltensten? Ich lauschte also
nur den Männern, und der erste Redebeitrag gehörte Sigmar Fischer,
Mitorganisator der ersten Demo von 1972, an der er allerdings selbst nicht
teilnehmen konnte, weil er, wie er verriet, bei seinen Eltern an diesem
Tag ... sein Coming out hatte. Er konnte noch andere Teilnehmer von einst
begrüssen und wusste zu erzählen, dass ein Schwuler die Demo
auf besondere Art und Weise begleitete: er war noch nicht geoutet und marschierte
parallel durch die Nebenstraßen.
Die Dinge sind im Fluss, das machte Felix Adrian Schäper deutlich,
der sich für die Rechte der Trans-
und Intermenschen einsetzte, ein Thema, welches mir schon auf
dem letzten CSD ins Auge sprang. Es gibt also noch einiges zu tun,
damit ich (als Esel nenne ich mich hier zuerst) und alle anderen eben so
leben können, wie wir es wollen. Oder, um es mit Wolfgang zu sagen:
die besorgten Bürger können es ... uns mal besorgen, aber sonst
können sie nix.
Dass der Einsatz für Minderheitenrechte bitter nötig ist,
zeigt die Demonstration, die einen Tag später in der Stubengasse stattfand.
"Pulse of Europe" war angesagt, eine Versammlung wirklich besorgter Bürger,
die sich Sorgen um Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa machen. Im
letzten Jahr hatte man den Eindruck, das vereinigte Europa fliegt uns um
die Ohren. Wen wundert es, dass Schwulenfeinde Europa mit seinen Werten
verachten, geradezu hassen? In Ungarn errichtet Victor Orban einen "illiberalen
Staat" und greift für seinen Klüngel beherzt in die Kassen Europas,
deren Werte er bekämpft. In Polen wird der Rechtsstaat eingeschränkt.
In Weißrussland spreizt sich schon seit Jahrzehnten ein Potentat,
der das Land ausplündert und den schönen Satz formuliert hat:
"Lieber Diktator
als schwul." Diesen Satz könnte wohl auch Vladimir Putin unterschreiben,
der seinen Unterthanen wirtschaftlich gar nichts mehr zu bieten hat und
deshalb auf Nationalismus macht, also Krieg gegen einen Nachbarn und Verfolgung
der Schwulen als Minderheit, bis hin zu ihrer Ermordung in der russischen
Region Tschetschenien. Dass in Deutschland heute sogenannte "Patrioten"
frech ihr Haupt erheben und mit nationalistischem Tamtam gegen Europa und
seine Werte, und damit auch gegen Schwule und Lesben hetzen, überrascht
nicht. Ja, die deutsche Geschichte seit dem 19. Jahrhundert lehrt, dass
Nationalismus das schönere Wort für Egoismus ist. So, das musste
ich mal auskotzen.
Nun bin ich dreist. Das Ereignis vom 29. April 1972 ist in den Köpfen
der Deutschen noch nicht angekommen. Die schwule Szene Münsters sollte
sich überlegen, ob sie die Texte und Fotos von der 72er Demo nicht
vollständig veröffentlicht, etwa in einem Buch. Rainer Plein,
der Organisator der Demo, sollte über vierzig Jahre nach seinem Tod
endlich die gebührende Anerkennung von der Stadt Münster bekommen,
wie immer diese auch aussehen mag. In fünf Jahren erwarte ich ...
einen Staatsakt in Münster, zu dem der Bundespräsident kommt,
die höchsten
Repräsentanten und Repräsentantinnen der Bundes- und Landesregierung,
Mitglieder des Bundes- und der Landtage. Ist das zu viel verlangt?
Sicher nicht!
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Bearbeitet am 30. April 2017
(C) Norbert Korfmacher, Münster