30. 8. 2005
1. Ulbricht und der Anfang
Wie kein anderer prägte er die DDR. Walter Ulbricht war einer
der dienstältesten Potentaten des Ostblocks. Dabei flogen ihm bei
öffentlichen Auftritten keineswegs die Herzen zu. Umständliches
Gehabe, eiskalte Ausstrahlung und dröge Monologe mit sächselnder
Fistelstimme prädestinierten den gelernten Tischler aus Leipzig nicht
unbedingt zum charismatischen Volkstribun. Der starke Mann der DDR verstand
sich eher darauf, die Menschen zu beherrschen als sie für sich einzunehmen.
Unumschränkter Staatenlenker und pedantischer Parteisoldat, wie geht
das zusammen?
Es waren gerade die Wesenszüge des perfekten Apparatschiks, die
Ulbricht für seine Aufgabe qualifizierten. Das Spiel mit der Macht
immerhin beherrschte er meisterhaft: Akribisch, arbeitswütig und mit
einem phänomenalen Personengedächtnis setzte er Funktionsträger
stets so ein oder ab, wie es seinen Zwecken dienlich war. Gegner verfolgte
er unerbittlich, parteiinterne Rivalen spielte er gegeneinander aus. Vor
allem aber lenkte er seinen Kurs instinktsicher in die Richtung, die der
Wind aus dem Osten gerade wies. Als treuer Statthalter Moskaus in Ost-Berlin
erst errang Ulbricht seine dominierende Rolle. Trotz Versorgungsmängeln
und Massenflucht, Kurswechseln im Kreml und parteiinternen Rivalitäten,
trotz Volksaufstand und Mauerbau (dessen Absicht er kurz zuvor noch öffentlich
abgestritten hatte), stieg Ulbricht zum beinahe unumschränkten Staatschef
auf. Doch auf dem Höhepunkt der Macht zeigte der Apparatschik eine
erstaunliche Wendung. Mit kleinen Freiheiten und mehr Konsum versuchte
er sich die - eingemauerte - Bevölkerung gewogen, mit modernen Reformen
seine Planwirtschaft wettbewerbsfähig zu machen. Doch am Ende fiel
er selbst dem Machtspiel zum Opfer, das er zeitlebens gepflegt hatte. Ausgerechnet
sein politischer Ziehsohn Erich Honecker beförderte den Vorgänger
aufs Altenteil.
Die Dokumentation verknüpft den Werdegang des eigenwilligen SED-Chefs
mit einer Zeitreise durch die Frühgeschichte der DDR, die aus heutiger
Sicht mitunter geradezu exotisch anmutet. Die Darstellung bewegender Einzelschicksale
sowie Erlebnisberichte von Zeit-"Genossen" wie dem Schriftsteller Erich
Loest, dem Politiker Hans Modrow, dem Filmregisseur Kurt Mätzig und
der Journalistin Carola Stern geben einen Einblick in das Innenleben des
frühen "Arbeiter- und Bauernstaats". Authentische, zum Teil unbekannte
oder ungezeigte Aufnahmen aus jenen Jahren, die etwa Ulbricht im Jahr 1932
oder die DDR-Gründung in Farbe zeigen, beleuchten aus ungewohnter
Perspektive jenes politische Großexperiment, das mit hohen Erwartungen
begann, und dessen Folgen bis heute spürbar sind.
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Bearbeitet am 18. Oktober 2005