6. 9. 2005
2. Mielke und die Freiheit
"Ich liebe Euch, ich liebe doch alle Menschen." Die Person, von der
diese historische "Liebeserklärung" stammt, war der wohl am meisten
gefürchtete und gehasste Mann der DDR. Erich Mielke prägte 32
Jahre lang als Minister für Staatsicherheit die Geschichte des zweiten
deutschen Staates. Er diente Ulbricht und Honecker, sicherte ihre Macht
und konspirierte bei ihrem Sturz. Der Stasichef und sein Ministerium bestimmten,
wer ein Staatsfeind war und wer nicht: wer bespitzelt, wer verhaftet, verurteilt
oder im Einzelfall sogar "liquidiert" werden sollte. Mielkes unanfechtbare
Stellung fußte auf der Maxime "Wissen ist Macht". 91.000 offizielle
und fast 200.000 inoffizielle Mitarbeiter standen unter seinem Befehl.
Das wichtigste Ziel: die Verhinderung von Opposition und Fluchten. Sein
größter Feind: der Freiheitswille der Menschen.
Erich Mielkes Karriere begann mit einem Mord, mit Schüssen auf
drei Polizisten am Bülowplatz 1931 in Berlin. Die KPD schützte
ihn, organisierte seine Flucht nach Moskau. Dafür schwor er der Partei
ewige Treue. Nach dem Krieg begann er, einen stalinistischen Sicherheitsapparat
im Osten Deutschlands aufzubauen, 1957 avancierte er zum Minister für
Staatssicherheit. Doch gegen die immer größere Fluchtwelle in
den Westen konnte auch er nichts tun. Die Mauer rettete das Regime. Bald
wurde die Grenze so dicht, dass jeder Versuch, sie zu überwinden,
lebensgefährlich war. Doch die Sehnsucht nach der Freiheit war nicht
auszulöschen. Bezeichnend der Fall des Grenzpolizisten Rudi Thurow.
Gemeinsam mit zwei Männern und einer Frau kletterte er am 21. Februar
1962 über die Drahtverhaue. Die Verfolger waren der Gruppe dicht auf
den Fersen. Auf einmal verfing sich ein Kamerad im Stacheldraht. Wenige
Augenblicke sollten über das Schicksal der Flüchtlinge entscheiden:
Die Freiheit - oder jahrelange Gefängnishaft. Rudi Thurow hielt die
Verfolger mit seiner Maschinenpistole in Schach, während die Begleiter
den Freund vom Stacheldraht befreiten und in den amerikanischen Sektor
zogen. Als Thurow bald darauf einen Tunnel von West nach Ost buddelte,
um andere DDR-Bürger in den Westen zu bringen, beschloss Mielke, ihn
"liquidieren" zu lassen. Drei Entführungsversuche schlugen fehl, schließlich
sollte der "Verräter" hinterrücks mit einem Hammer erschlagen
werden. Thurow hatte Glück, dieser Plan wurde nie in die Tat umgesetzt.
Mielke erwies sich in einer überlieferten Tonbandaufnahme als
kalter Schreibtischtäter: "Das ganze Geschwafel, von wegen nicht hinrichten
und nicht Todesurteil - alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig
auch ohne Gerichtsurteil". Disziplin und Organisationstalent, machiavellistisches
Machtstreben sowie die Bereitschaft, zur Sicherung der "Diktatur des Proletariats"
über Leichen zu gehen, hatten Mielke eine unanfechtbare Stellung verschafft.
Eitel genoss er diese Position. Der "Genosse Minister Armeegeneral" liebte
Orden, Auszeichnungen und Titel. Jeder runde Geburtstag wurde mit einem
unendlichen Defilee seiner Untergebenen begangen. Die Geschenke sah er
als "Liebesbeweise" von Partei und Volk an. In seinem Reich totaler Überwachung
war er Kontrolleur von allem und von jedem - und es war gefährlich,
sich mit Mielkes Männern anzulegen. Es war diese Unfreiheit, aber
auch die bleierne Eintönigkeit des Alltags, die viele Menschen in
die Flucht - und damit in die Fänge der Stasi trieb.
Ellen Thiemann war gelernte Krankenschwester, mit einem Fußballer
und Sportjournalisten verheiratet, Mutter eines elfjährigen Sohnes.
Die Familie wohnte in Ost-Berlin. Im Dezember 1972 versuchte die junge
Frau, zuerst ihr Kind im Tank eines Westautos nach "drüben" zu schmuggeln.
Sie wollte folgen, später ihr Mann. Doch der Sohn wurde an der Grenze
abgefangen, die Eltern verhaftet. Ellen Thiemann fand sich in einer zwei
Mal drei Meter großen Zelle wieder, die ganze Nacht brannte Licht.
Wochenlang zermürbende Verhöre. Ellen Thiemann verbrachte schließlich
zweieinhalb Jahre im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck, bevor
sie mit ihrem Sohn in den Westen ausreisen durfte. Ihr Ehemann blieb -
als Mitarbeiter der Stasi. In den 80er Jahren fassten immer mehr DDR-Bürger
den Mut, ihr Recht auf persönliche Freiheiten einzufordern. Eine Flut
von Ausreiseanträgen unterspülte die Diktatur der Partei. Besonders
junge Leute verloren die Angst vor Mielkes Überwachungs- und Repressionsapparat.
Obwohl Mielke noch 1988 für den Ernstfall die Internierung von Zehntausenden
DDR-Bürgern geplant hatte, überraschte auch ihn das schnelle
Ende seiner Macht. Als er nach dem Sturz der Mauer vor den Volkskammerabgeordneten
"Ich liebe Euch doch alle" stammelte, erntete der ehemals allmächtige
Geheimpolizist Gelächter.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils der ZDF-Reihe über die DDR steht
der berüchtigte Geheimdienstchef Erich Mielke: Ein deutscher Biedermann
und kalter Technokrat, ein Stalinist, der Schicksal spielen konnte über
Millionen von Menschen. Erzählt werden zugleich die Geschichten von
DDR-Bürgern, die ihren Weg in die Freiheit suchten. Geschichten voller
Mut, Verzweiflung und Hoffnung.
Prominenter Zeitzeuge, der für den Film interviewt wurde: Günter
Schabowski (Politbüromitglied und Maueröffner)
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Bearbeitet am 18. Oktober 2005