10. 4. 2007
3. Morgenröte im Reich der Mitte
Rufe und fröhliches Lachen schallen von der Spitze des Berges
herab, der sich schroff ansteigend über die Ebene erhebt. Doch bei
näherer Betrachtung ist ein Anlass für Heiterkeit kaum zu entdecken.
An der Chinesischen Mauer, am großartigsten von Menschenhand errichteten
Bauwerk, wird wieder gearbeitet. Oben auf dem Berggipfel errichten sie
einen Wachturm. Jeder Stein, jeder Sack Zement wird aus dem Tal unter unsäglicher
Qual von Trägern den Berg hinaufgeschleppt. Die Bauarbeiten dienen
nicht mehr der Verteidigung gegen barbarische Heerscharen aus dem Westen.
Touristen, die sich hierher verirren, sollen einen erhebenden Eindruck
von der 6.500 Kilometer langen Abwehr-Bastion mit nach Hause nehmen. Deshalb
wird das architektonische Wunderwerk rekonstruiert, damit es so wehrhaft
aussieht wie eh und je. Stolz seien sie, sagen die Arbeiter, an dieser
Baustelle arbeiten zu dürfen. Aber sie hätten auch begriffen,
was für eine Leistung ihre Vorväter vollbracht hätten. Eine
mörderische Knochenarbeit hätten sie auf sich genommen, um das
Vaterland zu schützen. - Dirk Sager und sein Team befinden sich am
westlichen Endpunkt der Mauer nahe der Stadt Jiayuguan. Von dort reisen
sie durch den wenig bekannten Westen des großen Reiches über
Lanzhou nach Chengdu und Kunming in den subtropischen Süden Chinas.
Im Norden begleitet ein verheerender Sandsturm den Weg, der erfahren lässt,
wie sehr ökologische Katastrophen den Aufstieg Chinas zur größten
Industrienation der Welt bedrohen. - Am Rande der westlichen Gebirge begegnet
Dirk Sager dem jungen Helden Tin-Tin. In einer Aufzuchtsstation für
Pandabären ist er der einzige seines Jahrgangs und kann auch ohne
Worte davon berichten, wie sehr das Überleben seiner Art gefährdet
ist. Einst bevölkerten die Pandas ganz Süd-Ost-Asien. Heute leben
in China nur noch rund 1.600 von ihnen. Zu Tausenden schieben sich die
Besucher an den Gehegen der Aufzuchtsstation vorbei und man weiß
nicht, ob diese Stunde der Bewunderung der seltenen Exoten nicht zugleich
auch eine Stunde des Abschieds ist. - Mit schrillen Klängen empfängt
die moderne Millionen-Metropole Chengdu den Besucher. Mannigfach schlägt
die Hauptstadt der Provinz Sechuan Brücken zur Vergangenheit. Auf
ein Erbstück ist sie besonders stolz. Chengdu, die einzige Stadt in
China, die es sich leistet, mit einer eigenen Operntradition in Konkurrenz
zu Peking zu treten. In einer Vorstadt treffen sich in einem früheren
Clubhaus der Eisenbahner jeden Tag vorwiegend die Pensionäre des Viertels,
um die Vor-stellung mit ähnlichem Lokalpatriotismus zu genießen,
wie andere einem Fußballverein huldigen mögen. Sie stürzen
sich auf die Ausländer, um ihnen die Geschichte und die Feinheiten
der Sechuan-Oper zu erläutern. Die Schauspieler hingegen wissen von
schweren Jahren zu berichten, als in der Zeit der Kulturrevolution ihre
Kunst verfolgt und sie selbst verprügelt wurden. Dem Urheber jener
finsteren Jahre ist in Chengdu noch ein überlebensgroßes Denkmal
gewidmet. - Ein weißer Mao Tse Tung steht in einem roten Meer von
vielen tausend Sternen. Sein Blick war einst wohl in die Ferne gerichtet.
Jetzt schaut er auf die imponierende Hochhaus-Silhouette des Stadtzentrums.
Der Kapitalismus in einem kommunistischen Land sprengt jede Vorstellungskraft,
erst recht wohl die des Staatsgründers des neuen Chinas, der in seinen
Tagen die Besitzenden als Volksfeinde grausam verfolgen ließ. Nach
Schätzungen von Historikern sind bis zu 70 Millionen Menschen unter
Maos Herrschaft umgekommen. - Erst südlich von Chengdu trifft Dirk
Sager auf jenes China, das kunstvoll in Tuschezeichnungen von Künstlern
zu einem Mythos erhoben wurde. Die von Wolken verschleierten Berggipfel,
die Jahrhundert alten Pagoden und Tempel-anlagen, die Figuren des erhabenen
Buddhas. Überwältigt blickt man auf den in Fels geschlagenen
sitzenden Buddha von Leshan, der in der Welt größte seiner Art,
der zugleich Touristenattraktion und Pilgerziel von vielen Gläubigen
ist. In den Tälern erstrecken sich wie in Grüntönen gewebte
Teppiche die Felder der Reis-bauern. Keinen traf das Team, der glücklich
in seiner Existenz ist. Zwar dürfen sie wieder die Felder nach eigener
Verantwortung bewirtschaften. Doch auf einem für uns Fremde ausgerichteten
Dorffest berichten sie in überraschender Offenheit von den Beschwernissen
ihres Lebens. Alle wünschten den eigenen Kindern ein Leben in der
Stadt, weil ihr Leben als Bauern nur Plackerei, aber kein gesichertes Auskommen
biete. - In Kunming hat das Team den Breitengrad der mittleren Sahara erreicht,
eine Stadt mit dem leichten Flair des Südens. In der "Stadt des ewigen
Frühlings" mit Straßencafes und eleganten Häuserfassaden
sucht eine neue Oberschicht ihren Lebensstil. Ein Bauunternehmer errichtet
jenseits des urbanen Zentrums eine kleine Stadt für die neuen Reichen.
Eine Siedlung von filigranen Einfamilien-häusern in bestechender Eleganz.
- Die Reise an die Grenze nach Vietnam lässt wie in einem Bilderbuch
den Zauber der viel tausendjährigen Kultur erahnen. Eine abgelegene
Region, in der Schrecken und Zerstörungswut der Mao-Jahre keine Spuren
hinterlassen haben. In den Stunden des Abschieds von dem großen Land
entwickelt es seinen feinen und einnehmenden Charme in der beschaulichen,
fernen Provinz.
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Bearbeitet am 16. April 2007